CJP Christlich-Jüdische Projekte

WEITblick

Trotz allem: Eine Zeit der Gemeinsamkeit

Junge Menschen sind in der gegenwärtigen Pandemie besonders unter Druck. Grund genug für den WEITblick, sich mit drei jungen Menschen aus den drei Religionsgemeinschaften Christentum, Judentum und Islam zu unterhalten.
Ausgabe

2 - Mai 2021

Autor*innen

Ayşegül Avcik, Peter Bollag, Ruedi Spöndlin, Tabitha Walther

Trotz allem

Elif Erturan, Ron Karger und Feodora Nwoke

Elif Erturan

25 Jahre alt, muslimisch, Masterstudium der Geographie und Geschichte im 4. Semester an der Universität Basel, aktiv in der MSAUB, der Muslim Students Association University of Basel, sowie im Netzwerk Junger Schweizer Muslim:innen, YSMN.

Ron Karger

21 Jahre alt, jüdisch, 2019 Zwischenjahr in Israel, auf der Suche nach weiterer Perspektive. Als Überbrückung in einem kleinen Praktikum mit Kindern. Ron amtiert in der Israelitischen Gemeinde Basel (IGB) am Schabbat und den Feiertagen als eine Art Synagogendiener, hebräisch Schammasch.

Feodora Nwoke

17 Jahre alt, christlich, Mitglied der Reformierten Kirche Münchenstein und der Freikirche Oikos in Basel. In Ausbildung als Fachperson Betreuung (FABE), arbeitet mit Kindern.

Vereinsamung, unsichere Stellensuche oder Probleme in der Schule oder der Universität sind nur einige der Herausforderungen, mit denen sich junge Menschen in Zeiten von Corona konfrontiert sehen. Die Krise ist auch für diejenigen unter ihnen, die sich in einer religiösen Gemeinschaft engagieren, deutlich spürbar, weil das religiöse Leben hierzulande stark eingeschränkt ist. Wir fragen Elif, Ron und Feodora, wie sie in der Pandemie klarkommen.

Tabitha Walther: Wie geht es euch in der Zeit der Coronapandemie?

Elif: «Im Frühling 2020 war ich fast immer zu Hause. Die Uni war zu und ich musste von zuhause aus studieren. Das fand ich ganz angenehm, es war für mich eine Art Auszeit. Ich konnte mich erholen und hatte auch Zeit für mich. Bei meinem Stundenplan war ich flexibler und musste auch nicht so früh aufstehen. Es war aber auch eine merkwürdige Zeit. Ich konnte meine Kolleginnen und Kollegen nicht mehr sehen, was etwas traurig war. Insgesamt erlebte ich die Zeit jedenfalls als ganz angenehm. Sie bot mir auch eine Gelegenheit zum Reflektieren.»


Tabitha: Heisst das, du hattest an der Uni keine Präsenzveranstaltungen, alles war online?


Elif: «Genau, ab März 2020 gab es nur noch Online-Veranstaltungen. Im Herbst fingen wir dann wieder mit Präsenzveranstaltungen an, zumindest für die Seminare. Als der Bundesrat die Coronamassnahmen dann aber bald wieder verschärfte, wurde dann wieder auf ausschliesslichen Online-Betrieb umgestellt.»


Ron: «Bei mir läuft zurzeit alles eigentlich recht normal, trotz Corona. Bei meiner Arbeit mit den Kindern bin ich physisch anwesend. Das Jahr 2020 war jedoch auch für mich etwas schwierig. Ich habe 2019 ein Zwischenjahr in Israel begonnen, an einer religiösen Torah-Hochschule, einer sogenannten Jeschiwa. Im Frühjahr 2020 kam ich dann in die Schweiz zurück und beteiligte mich noch ein bisschen per Internet am Schulbetrieb in Israel. Dann ging die Schule wieder auf, aber ich konnte nicht mehr nach Israel einreisen. Deshalb wurde es auf die Dauer schwierig, am Unterricht teilzunehmen. Im Sommer versuchte ich dann nochmals, nach Israel zu reisen, was sich aber ebenfalls als kompliziert erwies. Ich musste dann halt weiterschauen, machte verschiedene kleine Jobs und habe jetzt das Praktikum mit Kindern begonnen.»


Tabitha: Kommst du mit dieser Situation zurecht, oder ist es schwierig?


Ron: «Mein Alltag ist relativ normal, ausser dass man halt Masken tragen muss. Stark eingeschränkt bin ich aber nicht. Allerdings hatte ich ausserhalb der Schule auch sonst nicht allzu viele soziale Kontakte. Ab und zu habe ich mit Kollegen abgemacht, was ich vereinzelt immer noch tue.»

«Im Übrigen bin ich aber sonst nicht der, welcher in allem, was geschieht, eine höhere Bedeutung sieht. Für mich lief einiges auch normal, trotz Corona»


Ron Karger

Elif: «Unser Vereinsleben in der muslimischen Studierendenvereinigung stand völlig still. Auch das jährliche öffentliche Iftar – das abendliche Fastenbrechen während des letztjährigen Ramadans – der MSAUB konnte nicht stattfinden. Das war schade. Auch dass man beim Fasten im Ramadan allein zu Hause sitzen musste, fand ich mühsam, das Gemeinschaftsgefühl war nicht vorhanden. Ansonsten machte der Lockdown mir persönlich nicht allzu viel aus, da ich sowieso eher zu Hause bete.» 

Tabitha: Hat euch die religiöse Prägung, eure Spiritualität, in der Coronazeit geholfen?

Elif: «Ja, das Beten hilft in einer Notsituation sehr, es beruhigt. Ich glaube auch, dass alles, was geschieht, von Gott kommt und einen Grund hat. Das hat mich immer beruhigt». 

Ron: «Mir haben die religiösen Riten, insbesondere das Beten, geholfen, eine Struktur in den Alltag zu bringen. Man darf im Judentum die Gebete nur bis zu einem gewissen Zeitpunkt sagen. Beim Morgengebet zwingt einem das dann beispielsweise, rechtzeitig aufzustehen. Im Übrigen bin ich aber sonst nicht der, welcher in allem, was geschieht, eine höhere Bedeutung sieht. Für mich lief einiges auch normal, trotz Corona.»

Feodora: «Mein Glaube und mein spirituelles Empfinden sind eher stärker geworden. Ich war nicht mehr so abgelenkt wie vor Corona und hatte mehr Zeit, mich auf meinen Glauben einzulassen.»

Tabitha: Mehr Zeit wofür genau?

Feodora: «Um mir Gedanken zu machen und um Antworten in der Bibel zu suchen. So kam ich noch näher zu Gott.»

Aysegül: Wie erlebt ihr den religiösen Jahresablauf in Zeiten von Corona? Im Islam gibt es ja heilige Monate wie den Ramadan. Gibt es im Judentum auch sowas, Ron?

Ron: «Ja, das gibt es. Der Anfang des Zyklus ist der Feiertag Rosch Haschana (wörtlich: `Kopf des Jahres`), das jüdische Neujahr. Das ist meistens im September oder anfangs Oktober. Über das ganze Jahr gibt es dann weitere Feiertage, unter anderem die drei grossen Wallfahrtsfeiertage, an welchen man nach Jerusalem zum Tempel pilgerte. Das sind Sukkot, das Laubhüttenfest ein paar Tage nach Rosch Haschana, dann Pessach im Frühling und Schawuot, genau sieben Wochen später, am Ende des Frühlings. Pessach ist das Frühlingsfest, ursprünglich der Zeitpunkt der Aussaat, und Schawuot ist das Fest der Ernte, der Erstlingsfrüchte. Dazwischen liegen 49 Tage, an welchen man immer wieder auch schlimmer historischer Ereignisse gedenkt, es ist eine Trauerzeit. Dann gibt es – zwischen Rosch Haschana und Sukkot - den Versöhnungstag Jom Kippur, an dem wir den ganzen Tag in der Synagoge sind und beten. Daneben gibt es eine Reihe von untergeordneten Feiertagen.

«Ich hatte mehr Zeit, um mir Gedanken zu machen und um Antworten in der Bibel zu suchen. So kam ich noch näher zu Gott.»


Feodora Nwoke

Der jüdische Kalender ist ein Mondkalender, wie der islamische. Weil das Mondjahr kürzer ist als das weltliche Kalenderjahr, wandern die Festtage. Dank einem Schaltmonat, der alle drei bis vier Jahre eingelegt wird, bleiben die Festtage jedoch immer in der gleichen Jahreszeit.»

Aysegül: Schawuot steht also vor der Türe. Was bedeutet Dir dieser Feiertag persönlich?

Ron: «Schawuot ist zwar ein Erntedankfest, an dem auch Opfer gebracht wurden. Aber wir feiern dann auch, dass wir die Thora erhalten haben. Da ist es üblich, die ganze Nacht aus der Thora zu lernen. Normalerweise gibt es dazu ein strukturiertes Programm mit Vorträgen zu bestimmten Themen aus der Thora. Letztes Jahr war das aber natürlich nicht möglich. Ich lernte deshalb zusammen mit meinem Bruder die ganze Nacht zu Hause. Schade war für mich, dass ich letztes Jahr an Schawuot eigentlich an der Jeschiwa in Israel gewesen wäre. Das wäre ein sehr spezielles Ereignis gewesen, die ganze Schule bleibt normalerweise die ganze Nacht auf, lernt, sagt dann das Morgengebet und geht erst dann schlafen. Leider konnte ich wegen Corona dann aber nicht dort sein.»

Aysegül: Überlegst du dir, nächstes Jahr Schawuot an dieser Schule zu feiern? 

Ron: «Ja, ich bin jetzt auf der Suche nach einer Filmschule in Israel. Wenn ich ein Studium an einer solchen beginnen könnte, wäre es sicher eine Idee, für Schawuot an die religiöse Schule zurückzukehren und meine dortigen Freunde wieder zu treffen.» 

Aysegül: Elif, wie erlebst du den Ramadan in Coronazeiten?

Elif: «Ramadan ist der Monat, in dem Gott dem Propheten Mohammed die erste Offenbarung übermittelt hat. Während dieser Zeit soll man sich vieler weltlicher Dinge enthalten und die Zeit für Selbstreflexion nutzen. Normalerweise haben wir uns im Ramadan immer regelmässig getroffen, um uns über theologische Fragen auszutauschen. Dieser Austausch war im letzten Jahr nicht wirklich möglich und hat mir deshalb sehr gefehlt. Wir haben uns zwar online ausgetauscht, aber das ist nicht das Gleiche. Und wie schon erwähnt, vermisste ich das gemeinsame Fastenbrechen mit den Freundinnen und Freunden. Umgekehrt spürte ich meine Spiritualität besser und konnte mehr aus dem Koran lesen, weil ich zu Hause war. Dieses Jahr wird es vermutlich ähnlich sein. Die Situation hat ihre Vor- und Nachteile.» 

Am Pfingstfest feiern wir, dass der Heilige Geist über die Anhänger:innen von Jesus kam. Meine Familie, die aus Afrika stammt, ging dann jeweils in die Kirche und dankte dafür, mit vielen Gebeten.


Feodora Nwoke

Aysegül: Feodora, bei euch steht ja bald das Pfingstfest an. Kannst du erklären, was das ist und was du an dieser Zeit als besonders empfindest?

Feodora: «Am Pfingstfest feiern wir, dass der Heilige Geist über die Anhänger:in-nen von Jesus kam. Meine Familie, die aus Afrika stammt, ging dann jeweils in die Kirche und dankte dafür, mit vielen Gebeten. Meine jetzige Kirche hier in der Schweiz macht an Pfingsten aber nicht viel Spezielles. Das finde ich etwas schade. In Afrika sassen wir an Pfingsten jeweils beisammen und haben gebetet – mein Grossvater war Priester.»   

Tabitha: In den Landeskirchen ist Pfingsten tatsächlich nicht ein so prominentes Fest. Weihnachten und Ostern haben für die meisten Menschen einen viel höheren Stellenwert. Grundsätzlich ist Pfingsten aber etwas Fröhliches, sozusagen der Geburtstag der Kirche, an dem man dankbar für das Geschenk des Heiligen Geistes ist. Letztes Jahr waren an Ostern nur Online-Gottesdienste möglich, während man an Pfingsten wieder zusammenkommen konnte. Deshalb war Pfingsten für mich besonders schön.

Tabitha: Zum Schluss: Was war für Euch interessant, was die anderen beiden erzählt haben?

Ron: «Ich habe einige spannende neue Informationen erhalten. Um ehrlich zu sein: Ich kenne die christlichen Feiertage am besten aus meiner Schulzeit, weil man dann oft schulfrei hatte. Und über den Ramadan weiss ich doch auch das eine oder andere, allerdings habe ich jetzt heute einige neue Informationen bekommen – und das gilt auch für das Pfingstfest.»

Elif: «Auch ich habe heute einige neue Informationen bekommen, etwa über Schawuoth und welche Bedeutung es hat. Und grundsätzlich finde ich es schön, dass in einer Zeit, wo Religion grundsätzlich nicht so im Trend ist, sich drei junge Menschen an einem Sonntagnachmittag virtuell treffen, um sich über diese religiösen Themen zu unterhalten.»

Feodora: «Ich schliesse mich da an, auch ich wusste vor dem heutigen Gespräch nicht allzu viel über die anderen beiden Religionen, nehme aber jetzt doch einiges mit. Ich habe sowohl muslimische Freundinnen als auch einen jüdischen Kollegen, ihnen begegne ich nun vielleicht auch etwas anders als vorher, da ich mehr über ihren Hintergrund weiss.»

«Ich finde es schön, dass in einer Zeit, wo Religion nicht so im Trend ist, sich drei junge Menschen an einem Sonntagnachmittag virtuell treffen, um sich über religiöse Themen zu unterhalten.»


Elif Erturan

Tabitha: Ich habe gelernt, dass es bei den drei Festen, die in diesem Jahr ja auch in einem ähnlichen Zeitraum gefeiert werden, einiges gibt, das uns verbindet, bei allem Trennenden.

Ich habe von Elif erfahren, dass der Schluss des Ramadan-Monats speziell ist, weil der Koran und damit die Offenbarung Gottes auf die Erde kommt.

Ron hat uns erzählt, wie an Schawuoth aus der Torah gelernt wird, auch da zeigt sich meiner Meinung nach die Stimme Gottes, wenn ich es richtig verstanden habe – und das gilt auch für Pfingsten, das zwar nicht durch ein heiliges Buch aber dafür durch den Heiligen Geist geprägt ist. Der Heilige Geist ist die Kraft, mit der Gott mit den Menschen in Verbindung steht. Ich finde, dieser Gedanke hat etwas Berührendes, ebenso wie die Idee, dass gerade in dieser speziellen Zeit Himmel und Erde einander näherkommen. Aus dem Spektrum meiner Religion, also des Christentums, sind die Pfingstkirchen unbedingt zu nennen. Denn für sie spielt Pfingsten eine viel grössere Rolle als für die Landeskirchen. Ein Leiter einer Pfingstkirche hat einmal mit einem grossem Schmunzeln im Gesicht gesagt: «Wir glauben an die Lautstärke des Heiligen Geistes» («We believe in the loudness of the Spirit»), entsprechend wird dort auch Gottesdienst gefeiert.

 

*Aysegül Avcik ist Nahostwissenschaftlerin und leitet im Projekt religionen_lokal des Forums Basel eine interreligiöse Gesprächsgruppe.

*Peter Bollag ist Projektleiter der Christlich-Jüdischen Projekte (CJP).

*Ruedi Spöndlin ist Präsident des Forum für Zeitfragen.

*Tabitha Walther ist Fachleiterin Christentum am Zürcher Institut für Interreligiösen Dialog und im Teilzeitpensum Pfarrerin in der Behinderten-Seelsorge.